Elisabeth Krockert vollendet ihr 95. Lebensjahr
Wenn Elisabeth Krockert (geb. Kieß) in diesen Tagen (am 24. August) im Kreis ihrer Familie ihren 95. Geburtstag feiern wird, dann kann sie auf ein bewegtes und erlebnisreiches Leben zurückblicken. Vorab lässt sie sich gerne darauf ein, dem Besucher in einem unterhaltsamen und sehr aufschlussreichen Gespräch über wesentliche biografische Stationen, über frühe Prägungen, vielfältige Erfahrungen und aktuelle Einschätzungen zu erzählen. Denn nach wie vor versteht sich Elisabeth Krockert als eine gesellschaftlich engagierte Staatsbürgerin. Hellwach verfolgt sie die politischen Geschehnisse auf allen Ebenen, sei es im Fernsehen oder durch die tägliche Lektüre der Lokalzeitung, obgleich ihr dies durch die abnehmende Sehkraft immer schwerer fällt. „Ich meine, dass man bei entsprechendem Interesse sein Leben lang noch hinzulernen kann“, sagt sie mit einem gewissen Unverständnis gegenüber Leuten, die schon in jüngeren Jahren keine neuen Erkenntnisse mehr an sich ran lassen.
Angefangen hat alles im Wiesbadener Elternhaus, in dem sie als fünftes von sechs Geschwistern 1925 zur Welt kam. Ihr Vater, vorher Missionar im afrikanischen Togo, hatte nach dem Ersten Weltkrieg in Wiesbaden die Leitung des Christlichen Hospizes des Evangelischen Vereins für Innere Mission (heute bekannt als EVIM) übernommen. Zu dem Anwesen mit drei Häusern an der Platter bzw. Emser Straße (heute Hotel Oranien) gehörte auch ein großer Andachts- und Vortragssaal. Früh kam sie in Kontakt mit den Kindern unterschiedlicher Herkunft aus dem Kreis der Dauergäste und der Angestellten des Hauses. Und sie bekam gerade nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten so manches Gespräch mit, das ihr Vater oder ihre Mutter im Spannungsfeld von „Deutschen Christen“ und „Bekennender Kirche“ mit Theologen führten, die zu Besuch kamen, darunter die nicht nur in Wiesbaden bekannten Pfarrer Willy Borngässer und Martin Niemöller.
In der Familie war die Haltung gegenüber den Nazis eher ambivalent. Elisabeth sah sich zunächst unter dem Einfluss der beiden älteren Brüder, die glühende Hitler-Anhänger waren, und wurde mit 14 Jahren Führerin bei den Jungmädels, ohne dass sie so recht wusste, wie sie diese Rolle ausfüllen sollte. Von der Zeit an der Höheren Mädchenschule am Schlossplatz weiß sie zu berichten, dass es neben den parteikonformen Lehrkräften auch solche gab, die aus ihrer kritischen Haltung gegenüber den braunen Machthabern keinen Hehl machten. So erinnert sie sich sehr gut an eine Biologielehrerin, die in Sachen „Euthanasie“ vor einem Dammbruch warnte, bei dem das fünfte Gebot („Du sollst nicht töten.“) auf der Strecke bleiben werde.
Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in den Räumen des Christlichen Hospizes zahlreiche Flüchtlinge aus dem Osten aufgenommen. „Die Stadt Wiesbaden hingegen richtete erst im Februar 1946 in der Blücherschule Flüchtlingsunterkünfte ein“, beklagt Elisabeth Krockert noch heute. Im Hospiz lernte sie auch ihren späteren Ehemann Horst kennen, den sie 1952 heiratete. Er war im Krieg als bekennender Nazi bei der Marine und im U-Boot-Einsatz, fand jedoch bei christlichen Vorlesungen in der französischen Kriegsgefangenschaft zur Bibel und zum Glauben. So kam er über den CVJM als Sekretär zum Hospiz. Nachdem Elisabeth bereits bis 1950 ein Studium der Theologie in Mainz und Tübingen absolviert hatte, nahm auch Horst ein Theologiestudium auf. Als Frau durfte Elisabeth damals jedoch noch kein Pfarramt übernehmen; so war sie für mehrere Jahre im Schuldienst tätig. Horst Krockert hingegen wurde eine Pfarrstelle in Friedberg angeboten. Dort wohnte man nun mehrere Jahre und zwei der drei Söhne kamen hier zur Welt.
Ein neues Kapitel ihres Lebens begann mit Horsts beruflichem Wechsel zur Gossner-Mission in Kastel, der Übernahme der Leitung des Amtes für Industrie- und Sozialarbeit der EKHN und seiner dann folgenden politischen Aktivität. Nachdem er Mitte der sechziger Jahre in die SPD eingetreten war, wurde er 1969 als Direktkandidat im Wahlkreis Wiesbaden in den Bundestag gewählt, dem er für drei Wahlperioden (bis 1980) angehörte. Als Ehefrau eines Bundestagsabgeordneten nahm Elisabeth des Öfteren telefonisch und persönlich Sprechstunden wahr und vertrat ihn mitunter bei gesellschaftlichen bzw. geselligen Terminen, so bei Kerbefrühschoppen, wie sie sich schmunzelnd erinnert. Auch sie selbst trat der SPD bei und war u.a. im Vorstand des Ortsvereins Igstadt, der sie 2019 für ihre 50-jährige Mitgliedschaft ehrte, viele Jahre als Schriftführerin aktiv.
Ihr persönliches Engagement galt aber in besonderer Weise über lange Jahre dem Sambia-Ausschuss der Gossner-Mission, deren Kuratorium sie auch angehörte. Wiederholt war sie zum Besuch von Entwicklungsprojekten in diesem afrikanischen Land oder betreute Gäste von dort bei deren Besuchen in der Wiesbadener Versöhnungsgemeinde. Inspiriert war sie dabei gewiss auch von der früheren Missionstätigkeit ihres Vaters, der stets schulische Bildung, medizinische Versorgung und christliche Verkündigung als eine Einheit gesehen habe.
Als Horst Krockert nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Kirche wurde, übernahm Elisabeth eigenständig die Aufgaben einer Prädikantin und war bis zu ihrem 80. Lebensjahr im Predigtdienst als Vertretung in verschiedenen Gemeinden im Wiesbadener Stadtgebiet tätig. Stets habe sie die Aktualität vieler Bibeltexte herausgearbeitet und in ihren Ansprachen Bezüge zu gesellschaftlichen Themen der Gegenwart aufgezeigt. Allerdings seien damals schon die Sonntagsgottesdienste häufig nur schwach besucht gewesen.
Auch wenn sie nun nicht mehr in dieser Form tätig sein kann, hat sich Elisabeth Krockert ihren kritischen Blick auf Fehlentwicklungen bewahrt und bekennt freimütig: „Ich bin froh über jede Initiative, die sich gegen die Zerstörung unserer Umwelt und unserer Lebensgrundlagen richtet.“ Sie sei von klein auf zur Achtung der Natur erzogen worden. So sei es für sie stets ein Tabu gewesen, Lebensmittel wegzuwerfen. Zu lange habe eine blinde Fortschrittsgläubigkeit vorgeherrscht und erst sehr spät habe die Politik notwendige Maßnahmen zum Klimaschutz auf den Weg gebracht. Die gegenwärtige Corona-Pandemie habe Missstände – wie in den Großschlachtereien – sichtbar gemacht, die aber schon lange bestanden.
Gut informiert ist Elisabeth Krockert auch, da sie (unterstützt von ihren Söhnen) im Internet unterwegs ist und wie sie betont „selbstverständlich auch eine Mailadresse“ hat. Dank einer Betreuungskraft lebt sie weiterhin in ihrem eigenen Haus in der Igstadter Sudetenstraße, in dem sie seit 1982 wohnt.
Auf dem Weg zum 100. Geburtstag sind der Jubilarin noch viele gesunde, erfüllte und glückliche Tage zu wünschen. Helmut Nehrbaß